Nachdem sich Moritz Lindemann anfänglich als Goldschmied und Juwelenzeichner und danach als Schnellmaler in Wiener und Berliner Varietés verdingt hatte, eröffnete er 1911 in Wien einen kleinen Kunsthandel, mit dem er sich auf Alte Meister spezialisierte. An der Akademie der bildenden Künste in Wien besuchte er zudem einen Kurs bei dem Restaurator Serafin Maurer (1865–1945), der ihm einen besonders scharfen Blick für Echtheit und Wert eines Kunstgegenstandes attestierte. Dies machte Lindemann zum gefragten Kunstexperten, der in dieser Funktion an Museen im In- und Ausland berufen wurde. Zu seinen Spezialitäten zählte die Fähigkeit, übermalte Bilder zu erkennen und so Werke Alter Meister aufzuspüren, was ihm die Bezeichnung "Mann mit den Röntgenaugen" einbrachte. Insbesondere in den 1920er-Jahren war er in großen musealen Institutionen in Wien, Berlin, Belgien und den Niederlanden tätig. Nach dem "Anschluss" 1938 war Lindemann, der als Jude galt, in Wien nicht mehr sicher. Die Firma Otto Lautenbacher (vorm. Franz Kurt Levai), für die er ebenfalls arbeitete, suchte deshalb im Oktober 1938 beim belgischen Generalkonsulat um ein Passvisum für eine Dienstreise Lindemanns zwecks Kundenbesuchs und Abschlusses neuer Lieferverträge an. Lindemann, der im November selbst ein Ansuchen stellte, erreichte die Ausstellung eines dreimonatigen Visums zur Erledigung von Kunstangelegenheiten. Seine Familie suchte 1938 und 1939 bei der Zentralstelle für Denkmalschutz mehrfach um Ausfuhrgenehmigungen für Kunstgegenstände an, die alle bewilligt wurden. 1939 reiste Moritz Lindemann über Zürich und England nach Belgien, wo er seinen Geschäften weiterhin nachgehen und seine Kontakte u. a. mit dem Kunsthistoriker und Chefrestaurator im Königlichen Museum der Schönen Künste in Brüssel, Léo Van Puyvelde, vertiefen konnte. Diesem Haus widmete er 1941 auch zwei wertvolle Gemälde der niederländischen Schule. Nachdem Lindemann 1941 in das belgische "Judenregister" aufgenommen worden war, bemühte er sich im Jahr darauf um Befreiung vom Tragen des "Judensterns", woraufhin Einschätzungen namhafter Kustoden und Direktoren Wiener Museen erhoben bzw. deren frühere Bescheinigungen herangezogen wurden. Diese waren im Grundtenor positiv, insbesondere seine Schenkungsfreudigkeit, u. a. gegenüber der Österreichischen Galerie, wurde betont. Einzig der Leiter der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums (KHM) in Wien, Gert Adriani, zweifelte Lindemanns geschäftliche Praktiken an, obwohl auch das KHM von dessen Schenkungen profitiert hatte. Lindemanns vielfältige Kontakte reichten jedoch über die Kunstwelt hinaus. Als er im Juni 1943 im Lager in Mechelen interniert wurde, kam er aufgrund der Intervention der belgischen Königin Elisabeth nach nur wenigen Tagen frei. Letztlich konnte ihn dies alles nicht retten. Gesundheitlich schwer angeschlagen stellte sich Moritz Lindemann im Jänner 1944 der Gestapo. Ab diesem Zeitpunkt gibt es keine Hinweise mehr auf sein Schicksal – das Ministère de la Reconstruction in Belgien legte am 15. Februar 1951 sein Ableben für die Zeit zwischen 2. Jänner 1944 und 1. Juni 1945 fest. Auch der Verbleib der sechs Gemälde, welche die von der NS-Besatzung installierte "Brüsseler Treuhandgesellschaft" 1944 aus seiner Wohnung in Brüssel entfernen lassen hatte, ist heute unbekannt.
Moritz Lindemann
Oscar Friedmann (Hg.), Prominentenalmanach 1, Wien-Leipzig 1930.
Edwin Lachnit, Ringen mit dem Engel. Anton Kolig, Franz Wiegele, Sebastian Isepp, Gerhart Frankl, Wien-Köln-Weimar 1998.
Archiv der IKG, Matriken, Moritz Lindemann.
Archiv der Österreichischen Galerie Belvedere, Wien, Archiv Werner J. Schweiger, Moriz Lindemann.
Archiv der Wirtschaftskammer Österreich, Gewerberegister, Nr. 16.197; Nr. 27.956.
Archives of Royal Palace, Brussels, Secrétariat de la reine Élisabeth, 74/2.
BDA-Ausfuhr, Zl. 2001/1939, Emma Lindemann.
BDA-Ausfuhr, Zl. 574/1938, Hans Lindemann.
BDA-Ausfuhr, Zl. 5517/1938, Lindemann.
BDA-Ausfuhr, Zl. 8878/1938, Moritz Lindemann.
KHM-Archiv, 152/ED/1942.
KHM-Archiv, Gemäldegalerie, oZ1/GG/1942.
Museums of Fine Arts of Belgium, Archiv, Zl. 6090/2/128 (1939).
National Archives of Belgium, Police des Estrangers, Nr. A321.049.
OeStA/AdR, E-uReang, Abwicklungsstelle der Vermögensverkehrsstelle, Vugesta-Geschäftsbücher, Buch 7, Nr. 3764, Lindemann Emma und Grete.
OeStA/AdR, E-uReang, FLD, Zl. 3332, Emma und Margarethe Lindemann.
RKD Netherlands Institute for Art History, Max J. Friedländer Archive, RKD, The Hague, Notebook M.J. Friedländer, 1945/46, inv.nr. 306; Max J. Friedländer Archive, RKD, The Hague, Notebook M.J. Friedländer, 1939, inv.nr. 300.
SLA, HS 926/12, Schriftverkehr Kolig I, 110.
SPF Sécurité Sociale – DG Victimes de Guerre, Service Archives et Documentation, Bruxelles, Personal file «SDR» issued by the Archives and Documentation Service in the name of LINDEMANN Moritz, born on 16/09/1880 (Réf. SVG-dalpha).
SPF Sécurité Sociale – DG Victimes de Guerre, Service Archives et Documentation, Bruxelles, Original German card issued by the Sipo-SD (Sicherheitspolizei-Sicherheitsdienst) in the name of LINDEMANN Moritz, born on 16/09/1880 (Réf. SVG-SD 120902-lindemann-moriz).
WStLA, Historische Wiener Meldeunterlagen, Meldeauskunft Moritz Lindemann.