Der Vorstandsvorsitzende der Creditanstalt für Handel und Gewerbe und seit 1907 verwitwete Ludwig Neurath besaß eine bedeutende Kunstsammlung bestehend aus Gemälden, Miniaturen, Skulpturen, Porzellanen, Möbeln und einer Bibliothek, die 1921 im Zuge einer Wohnungsbeschau durch das Bundesdenkmalamt verzeichnet wurde. Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme sah sich der als Jude geltende Ludwig Neurath der zunehmenden Verfolgung ausgesetzt. Die mit 15. Juli 1938 datierte Vermögensanmeldung fasste seine mobilen Vermögenswerte nur summarisch zusammen: "Teppiche, Tafelsilber, Porzellan, Gläser, Uhren und Gemälde" im Wert von 11.500 Reichsmark. Ein undatiertes Brieffragment jedoch, vermutlich Anfang August 1938 von dem für die Zentralstelle für Denkmalschutz tätigen Kunstexperten Ivo Hans Gayrsperg verfasst, weist unter Punkt 3 bei "Direktor Ludwig Neurath, Wien I. Karlsplatz 1" auch das Ölgemälde Cholerakapelle von Jakob Alt aus. Als Ludwig Neurath 1939 seine Flucht nach Großbritannien vorbereitete, wandte sich die offenbar von ihm beauftragte Wiener Spedition Reitter Anfang März 1939 an die Zentralstelle für Denkmalschutz, um die Besichtigung diverser Kunstgegenstände aus dem Eigentum Neuraths anzuregen. Kurz darauf erstellte der Sachverständige und Schätzmeister Eugen Primavesi ein Schätzgutachten über die Kunstgegenstände in Neuraths Wohnung. Dieses verzeichnete unter anderem zehn mit Maßangaben versehene Teppiche sowie 53 Werke in erster Linie österreichischer Maler, darunter auch das Gemälde von Jakob Alt. Teile von Neuraths im Juni 1939 bei der Wiener Spedition Reitter eingelagerten Kunstsammlung wurden zur Ausfuhr freigegeben und für den Transport nach Hamburg übernommen. Jakob Alts Cholerakapelle war nicht darunter. Vermutlich gelangte es zur Finanzierung der Flucht in den Kunsthandel. Jedenfalls bemühte sich Bruno Grimschitz, Leiter der Österreichischen Galerie, bereits im Mai 1939 beim Amt des Reichsstatthalters Wien um die Veräußerung eines Gemäldes von Ferdinand Georg Waldmüller aus dem Bestand der Österreichischen Galerie, um Geld für den Ankauf des Ölgemäldes von Jakob Alt Landschaft mit der Cholerakapelle bei Baden zu lukrieren. Seinem Ersuchen wurde stattgegeben und das Werk über die Kunsthändlerin Marie Wolfrum 1939 erworben. Was mit der Bibliothek Ludwig Neuraths geschah, ist nicht bekannt. Neurath selbst flüchtete im August 1939 nach London, wo er 1941 verstarb. Seine beiden Söhne Ernst und Wilhelm Theodor konnten nach Kuba bzw. England entkommen. 2010 fasste der Kunstrückgabebeirat den Beschluss, Jakob Alts Cholerakapelle aus dem Bestand der Österreichischen Galerie an die RechtsnachfolgerInnen nach Ludwig Neurath zurückzugeben, da das Gemälde nachweislich unter dem Druck der Verfolgung verkauft werden musste.
Ludwig Neurath
Beschluss des Kunstrückgabebeirats, Ludwig Neurath, 20.11.2009, URL: www.provenienzforschung.gv.at/beiratsbeschluesse/Neurath_Ludwig_2009-11-20.pdf (3.12.2020).
Beschluss des Kunstrückgabebeirats, Ludwig Neurath, 22.9.2010, URL: www.provenienzforschung.gv.at/beiratsbeschluesse/Neurath_Ludwig_2010-09-22.pdf (3.12.2020).
Georg Gaugusch, Wer einmal war. Das jüdische Großbürgertum Wiens 1800–1938. L–R (= Jahrbuch der Heraldisch-Genealogischen Gesellschaft Adler, 3. Folge 17), Wien 2016.
Randy Schoenberg, Ludwig Neurath von Neudenegg, in: Geni a MyHeritage company, URL: www.geni.com/people/Ludwig-Neurath-von-Neudenegg/6000000007014468155 (3.12.2020).
Archiv der Österreichischen Galerie Belvedere, Zl. 289/1939, Zl. 351/1939.
BDA-Archiv, Restitutionsmaterialien, Peter Neurath, Zl. 7648/1969; Johanna Neurath Zl. 9052/1970.
BDA-Archiv, Wohnungsanforderungen, Ludwig Neurath, 855/1921.
BDA-Ausfuhr, Zl. 2499/1938; Zl. 3587/1939; Zl. 4596/1939.
OeStA/AdR, E-uReang, Hilfsfonds, Abgeltungsfonds 3772, Peter Neurath.
OeStA/AdR, E-uReang, VVSt, VA 17249, Ernst Neurath.
OeStA/AdR, E-uReang, VVSt, VA 6441, Ludwig Neurath.
OeStA/AdR, Handel-Wirtschaftsarchive, Spedition Reitter, K. 18, Zl. 460, Ludwig Neurath.
WStLA, Historische Wiener Meldeunterlagen, Meldeauskunft Ludwig Neurath.