Akademischer Verein jüdischer Mediziner in Wien

Akademischer Verein jüdischer Mediziner (AVJM) in Wien

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Info

Der Akademische Verein jüdischer Mediziner in Wien (AVJM) wurde am 14. Juli 1911 von den drei Studenten Alfred Grünspan, Siegfried Berl und Josef Krenberger bei der k. k. Statthalterei Niederösterreich angezeigt und dessen Bildung am 31. August 1911 nach Prüfung der Vereinsstatuten durch die Vereinsbehörde und der Polizeidirektion Wien nicht untersagt. Der Sitz des Vereins wechselte bis 1938 mehrmals, zunächst lag er in Wien 9, Währinger Straße 13a (anatomisches Institut) und zuletzt 1938 in Wien 9, Alser Straße 28. Der Verein begann bereits unmittelbar nach seiner Gründung mit dem Aufbau einer Bibliothek, wie auch in den Vereinsstatuten 1911 bzw. in deren geänderter Version aus 1913 festgehalten wurde, und organisierte für seine Mitglieder einen eigenen Bibliotheksbetrieb. 1921 kam es zur Eingliederung des Vereins als medizinische Sektion (Zweigverein) in den Gesamtverband jüdischer Hochschüler Österreichs Judäa. Die statuarische Umwandlung erfolgte mit Genehmigung durch den Wiener Magistrat (MA 49) am 10. Mai 1921. 1924 änderte der Verein seinen Namen in Akademischer Verein jüdischer Mediziner – (Medizinische) Sektion des Gesamtverbandes jüdischer Hochschüler Judäa und galt damit als offizielle Vertretung der jüdischen MedizinerInnen gegenüber den Universitätsbehörden. 1937 umfasste die Vereinsbibliothek zirka 2.000 Bücher. Die letzte Generalversammlung des AVJM vor dem "Anschluss" fand am 16. November 1937 statt, bei der Emil Katz zum Obmann, Heinrich (Hirsch) Heller zum Ersten und Isidor Ten(n)enbaum zum Zweiten Vize-Obmann gewählt wurden.

Der AVJM wurde am 13. September 1938 auf Antrag des vom Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich bestellten Stillhaltekommissars für Vereine, Organisationen und Verbände gemäß § 3 des Gesetzes über die Überleitung und Eingliederung von Vereinen, Organisationen und Verbände vom 17. Mai 1938 für aufgelöst erklärt und mit Bescheid des Wiener Magistrates (MA 2) vom 23. September 1939 aus dem Vereinskataster gelöscht. Währenddessen kam es im August 1938 durch den ehemaligen Obmann Emil Katz zur Anmeldung und durch die Gestapo zur Erfassung des Vereinsvermögens. Das angefertigte Vermögensverzeichnis führte eine Fachbibliothek von ungefähr 1.000 Bänden, ferner Lernmittel wie Mikroskope, Sezierzeuge etc. an. Über den weiteren Verbleib des beweglichen Vereinsvermögens gibt es keinerlei Hinweise. Es kam zu keiner Bestellung einer kommissarischen Verwaltung oder eines Liquidators, ebenso fehlen Hinweise auf eine angeordnete Verwertung etwa durch die Vermögensverkehrsstelle. Am 19. Jänner 1940 wurde vom Stillhaltekommissar ein Schlussbericht vorgelegt, aus dem hervorgeht, dass der Verein aufgelöst und das Vermögen für entzogen erklärt worden war. Über den weiteren Verbleib der Bücher gibt es keine Hinweise. Das Inventar dürfte "wilden Arisierungen" zum Opfer gefallen sein. Im Jahr 1939 befanden sich am früheren Standort des Vereines bereits die Lokalitäten des Sturmheims der SA 3/3 und der NSDAP-Ortsgruppe Alservorstadt.

An der Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien konnten im Zuge der systematischen Provenienzforschung zwei Bücher der ehemaligen Bibliothek des AVJM eruiert werden, die am Standort der Bibliothek des Institutes für Geschichte der Medizin nach 1938 inventarisiert worden waren. Da es nach 1945 zu keiner Wiederbegründung des Vereines kam, wurden die beiden Bücher im November 2019 an die Israelitische Kultusgemeinde Wien als Rechtsnachfolgerin restituiert.

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Publikationen zur Person / Institution

Shoshana Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, Vereine, Stiftungen und Fonds. "Arisierung" und Restitution (= Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich  21/2), Wien-München 2004, URL: hiko.univie.ac.at/PDF/21-2.pdf (3.12.2020).

N. N., Korrespondenzen, Wien, in: Jüdische Volksstimme, 26.7.1911, 5, URL: anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=jvs&datum=19110726&seite=5 (3.12.2020).

N. N., Kommilitonen! Jüdische Mediziner!, in: Jüdische Volksstimme, 20.9.1911, 4, URL: anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=jvs&datum=19110920&seite=4 (3.12.2020).

N. N., Der akademische Verein jüdischer Mediziner, in: Die Stimme, 24.9.1937, 8, URL: anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=dst&datum=19370924&seite=8 (3.12.2020).

N. N., Der akademische Verein jüdischer Mediziner, in: Die Stimme, 1.10.1937, 6, URL: anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=dst&datum=19371001&seite=6 (3.12.2020).

Archivalien

OeStA/AdR, ZNsZ, Stillhaltekommissar Wien (Stiko Wien), 31-M3, Akademischer Verein jüdischer Mediziner.

UAW, Akademischer Senat, Sonderreihe des Akademischen Senates: Vereine, Senat S, 164120 Akademischer Verein jüdischer Mediziner, 1910–1927,
UAW, Akademischer Senat, Sonderreihe des Akademischen Senates: Vereine, Senat S, 1447/1910–1911
UAW, Akademischer Senat, Sonderreihe des Akademischen Senates: Vereine, Senat S 329/1913–1914.
UAW, Akademischer Senat, Sonderreihe des Akademischen Senates: Vereine, Senat S 163.32 Akademischer Verein Jüdischer Mediziner, 1937.11.27.
UAW, Med.Fak., Dekanat, 445/38 Akademischer Verein jüdischer Mediziner – Bekanntgabe des neugewählten Ausschusses.
UAW, Rektorat, Promotionsprotokoll 1929-1941, Sign. 194 sowie Nationalien/Studienkataloge 1862–1938, Sign. 134.

WStLA, M.Abt. 119, A32, gelöschte Vereine, 229/1921, Akademischer Verein jüdischer Mediziner.