Richter, Helene

Helene Richter

Porträt, Schwarzweiß-Foto
Info
Zusatzinformationen

4.8.1861 Wien – 8.11.1942 Ghetto Theresienstadt / Terezín

Helene Richter entstammte einer liberalen Familie des (groß)bürgerlichen Milieus mit jüdischem Hintergrund. Ihr Vater, der Arzt Maximilian Richter, war Chef des Sanitätsdiensts der k. k. privilegierten Südbahn-Gesellschaft, Mutter Emilie Hausfrau. Gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Elise erhielt Helene von Privatlehrerinnen Unterricht und unternahm Bildungsreisen. Richter begann ab 1891 als Gasthörerin Vorlesungen an der Universität Wien zu besuchen, strebte aber im Gegensatz zu ihrer jüngeren Schwester Elise keine universitäre Berufslaufbahn an. Dennoch entsprach ihr Lebensentwurf keineswegs dem gängigen der Zeit: sie blieb unverheiratet und kinderlos, widmete ihr Leben der Forschung. Ab den 1890er-Jahren wandte sich Richter der englischen Literatur zu, trat als Übersetzerin in Erscheinung und entwickelte sich zu einer erfolgreichen und anerkannten Publizistin. Neben ihrer Beschäftigung mit der englischen Romantik und ihren biografischen Werken führte ihre anfänglich jugendliche Begeisterung für das Theater schließlich zu einer tiefgehenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Geschichte des k. k. Hof-Burgtheaters und dem Schauspiel. Bereits in ihrer Jugend legte Helene den Grundstein ihrer später umfangreichen Theatralia-Sammlung mit Autografen, Fotografien, Lithografien, Kupferstichen und weiteren Objekten. Gemeinsam mit ihrer Schwester lebte Helene Richter in einer Villa im Währinger Cottageviertel, in der sie regelmäßig KünstlerInnen, SchriftstellerInnen, WissenschaftlerInnen und Aktivistinnen empfing. In den 1920er-Jahren mussten Helene und Elise Richter ihre Villa aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten gegen Zahlung einer Leibrente und unter Zubilligung des lebenslangen Wohnrechts verkaufen. Trotz finanzieller Not und körperlicher Leiden veröffentlichte Helene Richter in dieser Zeit zahlreiche Aufsätze, Theaterkritiken und nicht weniger als vier Monografien. 1931 – anlässlich ihres 70. Geburtstages – ehrten sie die Universitäten Heidelberg und Erlangen sowie die Stadt Wien.

Nach dem "Anschluss" 1938 war die mittlerweile gehörlose und pflegebedürftige Helene Richter, die 1897 aus der israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten und 1911 gemeinsam mit ihrer Schwester zum evangelischen Glauben nach Augsburger Bekenntnis konvertiert war, der NS-Verfolgung ausgesetzt. Als Jüdin im Sinne der nationalsozialistischen Nürnberger Gesetze erhielt sie im Deutschen Reich Publikations- und Bibliotheksverbot. Jeglicher Betätigung beraubt, von Krankheit gezeichnet, mussten die Schwestern 1941 ihre umfangreiche Bibliothek mit Romanica und Anglistica an die Universitätsbibliothek Köln verkaufen. Auch dem Druck, ihre Autografen- und Theatersammlung an die Nationalbibliothek zu veräußern, gab Helene Richter schließlich nach. Am 10. März 1942 wurde Helene Richter gemeinsam mit ihrer Schwester delogiert, in das jüdische Altersheim in der Seegasse 16, Wien 9, gebracht und schließlich im Oktober 1942 in das "Altersghetto" Theresienstadt deportiert, wo sie am 8. November 1942 verstarb. Nach 1945 wurde kein Verlassenschafts- oder Rückstellungsverfahren eingeleitet. Erst 1972 erwirkte eine Immobiliengesellschaft Helenes offizielle Todeserklärung, da ihr Haus verkauft und ihr lebenslang zugesichertes Wohnrecht nun gelöscht werden sollte. Zwischen 2005 und 2007 erfolgten Beschlüsse der Wiener Rückstellungskommission und des Kunstrückgabebeirates, die in den Sammlungen der Stadt Wien, der Österreichischen Nationalbibliothek und des Theatermuseums befindlichen Objekte von Helene und ihrer Schwester an deren NachkommInnen auszufolgen.

Author Info
Veröffentlichungsdatum
Publikationen zur Person / Institution

Beiratsbeschluss Elise und Helene Richter, 29.3.2006, URL: www.provenienzforschung.gv.at/beiratsbeschluesse/Richter_Elise_Helene_2006-03-29.pdf (29.9.2022).

Beiratsbeschluss Elise und Helene Richter, 28.9.2007, URL: www.provenienzforschung.gv.at/beiratsbeschluesse/Richter_Elise_Helene_2007-09-28.pdf (29.9.2022).

Thierry Elsen/Robert Tanzmeister, In Sachen Elise und Helene Richter. Die Chronologie eines "Bibliotheksverkaufs", in: Murray G. Hall/Christina Köstner/Margot Werner (Hg.), Geraubte Bücher. Die Österreichische Nationalbibliothek stellt sich ihrer NS-Vergangenheit, Wien 2004, 128–138.

Christiane Hoffrath, Die Bibliothek der Schwestern Elise und Helene Richter in der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, in: Regine Dehnel (Hg.), NS-Raubgut in Bibliotheken. Suche, Ergebnisse, Perspektiven. Drittes Hannoversches Symposium im Auftrag der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (= Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, Sonderband 94), Frankfurt am Main 2008, 127–138.

Christiane Hoffrath, Bücherspuren: das Schicksal von Elise und Helene Richter und ihrer Bibliothek im "Dritten Reich", Wien-Köln-Weimar 2009.

Monika Löscher/Markus Stumpf, "... im wesentlichen unbeschädigt erhalten geblieben ...": Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek Wien am Beispiel der Fachbereichsbibliothek Anglistik und Amerikanistik, in: Gabriele Anderl/Christoph Bazil/Eva Blimlinger/Oliver Kühschelm/Monika Mayer/Anita Stelzl-Gallian/Leonhard Weidinger (Hg.), ... wesentlich mehr Fälle als angenommen. 10 Jahre Kommission für Provenienzforschung (= Schriftenreihe der Kommission für Provenienzforschung 1), Wien 2009, 281–297.

Franz Karl Stanzel, Erinnerungen an die Anglistin Helene Richter anlässlich der Wiederkehr ihres 150. Geburtstages 2011, in: Anglia 129 (2011), 321–332.

Theresienstädter Gedenkbuch. Österreichische Jüdinnen und Juden in Theresienstadt 1942–1945, Prag 2005.

Robert Tanzmeister, Die Wiener Romanistik im Nationalsozialismus, in: Mitchell G. Ash/Wolfram Nieß/Ramon Pils (Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel Wien. Göttingen 2010, 487–520.

Michaela Raggam-Blesch, A Pioneer in Academia: Elise Richter, in: Judith Szapor/Andrea Pető/Maura Hametz/Marina Calloni (Hg.), Jewish Intellectual Women in Central Europe 1860–2000. Twelve Biographical Essays, New York-Queenston-Lampeter 2012, 93–128.

Publikationen der Person / Institution

Helene Richter, Mary Wollstonecraft. Die Verfechterin der "Rechte der Frau", Wien 1897.

Helene Richter, Percy Bysshe Shelley, Weimar 1898.

Helene Richter, Thomas Chatterton, Wien 1900.

Helene Richter, William Blake, Strassburg 1906.

Helene Richter, Geschichte der englischen Romantik, Halle an der Saale 1911–1916.

Helene Richter, Josef Lewinsky. Fünfzig Jahre Wiener Kunst und Kultur. Zum 150-jährigen Jubiläum des Burgtheaters mit Unterstützung der Stadt Wien hrsg. Wien 1926.

Helene Richter, Kainz, Wien 1931.

Helene Richter, Schauspieler-Charakteristiken. Hamburg-Leipzig 1914.

Archivalien

OeStA/AdR, E-uReang, VVSt, VA 27.298, Helene Richter.

ÖNB, Handschriftensammlung, Teilnachlass Elise Richter und Helene Richter.

Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, Erwerbungsabteilung: hektographierte Listen 1933–1934, Erwerbung von Privatbibliotheken; Erwerbung Bibliothek Helene und Elise Richter, Zugang 653.

Virtuelle Bibliothek Elise und Helene Richter, URL: richterbibliothek.ub.uni-koeln.de/portal/home.html?l=de (29.9.2022).

Wienbibliothek im Rathaus, Druckschriftensammlung, B-88184, Helene Richter, Die drei großen Tragödinnen des Burgtheaters im 19. Jahrhundert. [Sophie Schröder, Julie Rettich, Charlotte Wolter]. Unveröffentlichtes Manuskript.
Wienbibliothek im Rathaus, Tagblattarchiv, Mappe "Helene Richter", TP-042140.
Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, NL Helene Richter und Elise Richter, ZPH 238.

WStLA, LG für Zivilrechtssachen, 48T 1152/72–5, Todeserklärung Helene Richter.