Bibliothek der Gesellschaft der Ärzte in Wien

Bibliothek der Gesellschaft der Ärzte in Wien

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weitere Bezeichnung: Wiener medizinische Bibliothek – Billrothhaus (1939–1945)

Die von Wissenschaftern der Medizinischen Fakultät der Universität Wien und Ärzten des Allgemeinen Krankenhauses in Wien 1837 als Verein gegründete Gesellschaft der Ärzte in Wien (GdÄW) etablierte sich während des 19. Jahrhunderts zu einem Zentrum des medizinisch-wissenschaftlichen Lebens. Die Errichtung einer eigenen Bibliothek (Lesekabinett) war schon bei den Vorbereitungen zur Konstituierung der Gesellschaft vorgesehen und wurde 1840 umgesetzt. Die Bibliothekserwerbungen wurden von Beginn an weitestgehend durch Schenkungen und Spenden, durch Beiträge der Mitglieder der GdÄW und später auch durch ausgeschiedene Bestände aus den Klinik- und Institutsbibliotheken des Allgemeinen Krankenhauses in Wien organisiert. So wurde ihr Bestand kontinuierlich erweitert und stellte Ende des 19. Jahrhunderts neben der Bibliothek im Josephinum (Standort der späteren Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin), jener des Doktoren-Kollegiums und der Bibliothek des sogenannten Ärztlichen Lesezimmers im Allgemeinen Krankenhaus Wien die größte zentrale medizinische Bibliothekseinrichtung in Wien dar.

Nach dem “Anschluss“ im März 1938 kam es zu einer erzwungenen Austrittswelle jüdischer Mitglieder aus der GdÄW, die zu einer de facto Selbstauflösung und der Einstellung ihrer Tätigkeiten führte. So wurde auch der langjährige Bibliothekar und Dozent für Geschichte der Medizin, Isidor Fischer, zum Austritt gezwungen. Am 22. März 1938 ernannte der Gauobmann des NS-Ärztebundes (Gau Wien), Otto Planner-Plann, den bisherigen Vermögensverwalter der GdÄW, Adolf Irtl zum kommissarischen Leiter der Bibliothek. Irtl war bereits vor 1938 Funktionär der GdÄW und seit 1. März 1938 Mitglied der NSDAP. Mit dem Gesetz über die Überleitung und Eingliederung von Vereinen, Organisationen und Verbänden im Mai 1938 und der entsprechenden Verordnung des Reichsstatthalters in Österreich drohte die Auflösung der GdÄW. Bis Oktober 1938 versuchte Irtl den Weiterbestand der Gesellschaft und der Bibliothek durch Interventionen beim Dekanat der Medizinischen Fakultät und den vorgesetzten Stellen zu erwirken. Sein Ziel war vor allem die Bestandserhaltung der Bibliothek sowie eine Neugründung der Gesellschaft nach nationalsozialistischen Grundsätzen, wozu er eigene Vereinsstatuten ausgearbeitet hatte. Von der Reichsärzteführung und durch den Stillhaltekommissar wurde schließlich verfügt, das Vermögen der GdÄW der Reichsärztekammer in Berlin zu übertragen und ihr die Bibliothek zu unterstellen. Dieser Schritt erfolgte durch die Auflösung der GdÄW am 14. Oktober 1938. Als Nachfolgeorganisation wurde im Februar 1939 die Wiener medizinische Gesellschaft gegründet und darin die Bibliothek der ehemaligen GdÄW unter dem Namen Wiener medizinische Bibliothek – Billrothhaus integriert und von Irtl bis 1945 weitergeführt. Die Bibliothek der ehemaligen GdÄW war damit die einzige Bibliothek eines außeruniversitären medizinischen Vereins, die nicht von der Auflösung durch das NS-Regime betroffen war. Dies dürfte zum einen auf ihr unbestrittenes wissenschaftliches Ansehen und zum anderen auf deren materiellen Wert des Bestandes zurückzuführen sein. Bei der Vermögensschätzung am 31. März 1938 wurde das Haus am Standort der GdÄW in Wien 9, Frankgasse 8 mit 90.000,- Schilling und die am selben Standort sich befindende Bibliothek mit 250.000,- Schilling (Brandversicherungssumme) bewertet, ihr ein “unschätzbarer Wert“ beigemessen und als “größte [außeruniversitäre] deutsche medizinische Bibliothek“ bezeichnet. Während der Jahre 1938 bis 1945 kam es zur Weiterführung der Bibliotheksarbeit. Die Bestandserweiterung erfolgte vor allem durch Schenkungen von ÄrztInnen, den Schriftentausch mit deutschen Bibliotheken und den Erwerb von Nachlässen, wie u. a. jenen des Chirurgen Anton Eiselsberg. Im April 1939 bezog die Bibliothek vom Beauftragten des Reichsärzteführers für das ärztliche Fortbildungswesen, Kurt Blome, Bücher aus der Paracelsus-Bibliothek in Leipzig. Zwischen 1940 und 1942 kam es zu Erwerbungen über die “Reichsaustauschstelle Berlin“ (darunter Bücher von der Senckenbergischen Bibliothek in Frankfurt am Main) und von medizinischen Universitätsbibliotheken und medizinischen Einrichtungen in Deutschland. Nach der Besetzung Frankreichs erhielt die Bibliothek französische Zeitschriften von der Auslandszeitungshandel GmbH. in Köln. Darüber hinaus empfing die Bibliothek in den Jahren 1941 und 1942 mehr als 300 französischsprachige Bücher durch den Leiter der Presseabteilung der Gestapo-Leitstelle Wien, Alfons Rosse. Die Bücher stammen wahrscheinlich aus Beschlagnahmeaktionen der Gestapo in Frankreich.

Nach der Befreiung Österreichs kam es am 10. Juni 1945 auf Initiative des amtsführenden Stadtrates für Kultur und Volksbildung der Stadt Wien, dem KPÖ-Funktionär Viktor Matejka, zur provisorischen Wiedererrichtung der GdÄW durch einen vorläufigen Verwaltungsrat und am 19. Oktober 1945 zur Wahl eines ordentlichen Präsidiums. Das Vereins-Reorganisationsgesetz vom 31. Juni 1945 ermöglichte am 13. Juni 1946 die Aufnahme der Vereinstätigkeit. Die Bibliothek war 1944 zum Schutz vor den Auswirkungen der Luftangriffe in einer Scheune in Peigarten bei Waidhofen an der Thaya untergebracht, im Juli 1945 sichergestellt und schließlich im Herbst 1945 an ihren ursprünglichen Standort in der Frankgasse 8 zurückgeführt worden. Erst im Jahr 1949, nach der Freigabe durch die amerikanische Besatzungsmacht, gelangte sie wieder ins Eigentum der GdÄW zurück. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Billrothaus noch grundbuchlich der Reichsärztekammer zugeordnet gewesen und hatte damit als “Deutsches Eigentum“ gegolten. Die größten Teile der Bibliothek der GdÄW wurden in den 1960er-Jahren und vor allem 1976 und 2003 als Dauerleihgabe in mehreren Tranchen von der Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin übernommen, womit ein zentraler Standort der medizinhistorischen Bestände Wiens des 19. und 20. Jahrhunderts geschaffen wurde.

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Publikationen zur Person / Institution

Harald Albrecht/Bruno Bauer/Walter Mentzel, Josephinische Bibliothek und medizinhistorische Bestände der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien, in: GMS Medizin – Bibliothek – Information, 12 (2012).

Peter Malina, Die Gestapo als Bücherlieferant. Vorläufige Ergebnisse der Provenienzforschung an der Universität Wien, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Buchforschung (2006) 2, 30–41, URL: www.buchforschung.at/pdf/MB2006-2.pdf (3.12.2020).

Max Neuburger, Die Entwicklung des wissenschaftlichen Vereinswesens und seine Bedeutung für den medizinischen Fortschritt, in: Wiener Klinische Wochenschrift (1937) 20, 666–674.

Friedrich Ribar, Die Geschichte der Bibliothek der Gesellschaft der Ärzte in Wien 1837–1987, Wien 1990.

Karl Hermann Spitzy (Hg.), Gesellschaft der Ärzte in Wien 1837–1987, Wien 1987.

Franz Weisz, Die Geheime Staatspolizei. Staatspolizeileitstelle Wien 1938–1945. Organisation, Arbeitsweise und personale Belange, Dissertation Universität Wien 1991.

Archivalien

UAW, Med. Fak., Dekanat, Zl. 1.259/1937–1938.
UAW, Rektorat, Zl. 258/1941–1942, Universitätsbibliothek Wien.
UAW, Rektorat, Zl. 150/1944–1945, Bergung der Bibliothek des “Billroth-Hauses“.

WStLA, M.Abt. 119, A41, VEAV 217, 9. Bez., Gesellschaft der Ärzte in Wien.